Während der Corona-Krise stützte sich die Politik bei der Durchsetzung harter Grundrechtseinschränkungen auf die öffentlichen Aussagen des Robert Koch-Instituts (RKI) und argumentierte stets damit, dass es sich um die Ergebnisse unabhängiger Wissenschaft handle. Maßnahmenkritiker bezweifelten die vermeintliche Autonomie, nicht zuletzt deswegen, weil die Einrichtung dem Gesundheitsministerium untersteht und weisungsgebunden ist.
Den Beweis dafür lieferten relativ spät die sogenannten RKI-Protokolle. Aus ihnen geht hervor, dass das Institut während der Corona-Krise politisch instrumentalisiert wurde. Die Wissenschaft erwies sich nicht als unabhängig, sondern als vereinnahmt. Diesen Aspekt unterstreicht eine Anthologie, die nun im Massel-Verlag erschienen ist.
Als Herausgeber fungiert der Journalist Bastian Barucker, einer der Protagonisten, die sich über Monate um die Veröffentlichung der RKI-Protokolle bemühten. Der Weg dahin war ein steiniger. Auch das belegt dieses Buch, in dem zwei weitere Figuren jeweils ein Vorwort geschrieben haben: Aya Velázquez und Paul Schreyer.
Wie ein Thriller
Letzterer hatte mit seinem Magazin Multipolar die RKI-Protokolle in einem langwierigen Prozess freigeklagt, erhielt sie allerdings in einem nur semibrauchbaren Zustand. Viele brisante Stellen waren geschwärzt. Hier kommt Velázquez ins Spiel. Der Journalistin gelang es, mithilfe einer anonym gebliebenen Person aus dem RKI an die Originalprotokolle zu kommen.
Wie das vonstatten ging, welche Risiken beide auf sich nahmen und welche technischen Herausforderungen zu meistern waren, beschreibt Velázquez in ihrem Vorwort so detailliert wie spannend. Der Text liest sich wie ein Thriller, der in mehreren Jahren hoffentlich auf der Leinwand läuft – wenn die Aufarbeitung der Corona-Krise tatsächlich gelingt.
Diesem Zweck dient auch die Anthologie. Sie führt vor Augen, welchen Verrat die Wissenschaft an sich selbst begangen, wie die Politik sie für eigene Zwecke missbraucht und die Bürger getäuscht hat. Die Folgeschäden sind groß, allein auf juristischer Ebene. Viele Richter begründeten ihre Urteile mit den öffentlichen Aussagen des RKI, obwohl diese nicht die interne Sicht des Instituts widerspiegelten.
Anspruchsvolle wie informative Zusammenfassung
Die Protokolle lassen daran keinen Zweifel. Allerdings hat nicht jeder die Zeit, sie zu lesen. Das Material ist recht umfangreich und nicht gerade ein Lesevergnügen. Die Anthologie dient daher als anspruchsvolle wie informative Zusammenfassung eines Skandals, der in den Leitmedien nicht als solcher erkannt wurde – oder nicht erkannt werden wollte.
Die versammelten Autoren akzentuieren jeweils verschiedene Aspekte, indem sie auf der Folie der RKI-Protokolle unter anderem die Wirksamkeit der Masken untersuchen oder die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche; indem sie die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht analysieren oder sich mit der Frage beschäftigen, ob die Grundrechtseinschränkungen tatsächlich recht- und verhältnismäßig waren.
Der Herausgeber selbst ist neben Einleitung und Nachwort mit vier Beiträgen vertreten. Barucker geht darin argumentativ auf die Hauptnarrative während der Corona-Krise ein und entkräftet sie, indem er unter anderem aus den Protokollen zitiert. Ein Vermerk vom 19. März 2021 etwa gibt eine Antwort darauf, ob das Virus wirklich so gefährlich und tödlich war wie stets behauptet: «Leicht unter dem Durchschnitt der Vorjahre, ggf. durch Ausbleiben der Influenzawelle, es ist keine Übersterblichkeit sichtbar», heißt es im klassischen Protokollstil.
Auseinandersetzung mit Impfkampagne
In gleicher Manier untersucht Barucker, inwiefern die Corona-Impfkampagne auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen beruhte. Es bleibe unklar, wie man überhaupt auf die Idee gekommen sei, eine so hohe Wirkmächtigkeit der Vakzine zu propagieren, schreibt er: «Die entschwärzten RKI-Protokolle deuten darauf hin, dass man auch beim RKI überhaupt keine Daten und Einschätzungen liefern konnte, die diese massive Impfwerbung gerechtfertigt hätten.»
Das Thema Impfung behandeln zudem der Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Alexander Konietzky, die Biologin Sabine C. Stebel, der Journalist Philippe Dobionne und Aya Velázquez. Letztere hebt das Versagen des RKI speziell im Winter 2021/22 hervor. Konietzky hingegen zeigt anhand der Protokolle, dass angesichts der damaligen Faktenlage niemand der Impfung hätte zustimmen können.
Zunächst sei bei der Entwicklung der Stoffe nicht der herkömmliche Weg mit Zulassungsstudien über viele Jahre hinweg beschritten worden, schreibt er, um dann aus einem Vermerk des RKI-Krisenstabs vom 27. April 2020 zu zitieren: «Es werden mehrere Impfstoffe kommen, die im Schnelldurchgang entwickelt und geprüft wurden. Relevante Daten werden erst Post-Marketing erhoben.»
Politischer Druck
Nicht weniger lesenswert ist der Beitrag der Welt-Journalistin Elke Bodderas, die in einem noch viel stärkeren Maße auf die politischen Implikationen eingeht. Sie wirft ein Schlaglicht auf die interne Diskussion darüber, was passieren könnte, wenn das Institut nicht den Vorgaben des Gesundheitsministeriums folgt. Unter anderem wurde ein Risiko darin gesehen, dass die politischen Entscheidungsträger «selbst Indikatoren entwickeln» oder «das RKI bei ähnlichen Aufträgen nicht mehr einbinden» würden.
Die Neurowissenschaftlerin Valeria Petkova verdeutlicht hingegen, wie die Politik mit dem Label «Vertraue der Wissenschaft» psychologische Erkenntnisse für die Manipulation nutzte – insbesondere den «Halo-Effekt»*, einen Beurteilungsfehler, der dann entsteht, wenn ein einzelnes auffälliges und positives Merkmal die Wahrnehmung anderer Eigenschaften überstrahlt.
Versagen des «Lauterbach-Ministeriums»
Unter den Autoren befinden sich auch überaus prominente Namen, Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin und ehrenamtliche Richterin Juli Zeh, der Juraprofessor Volker Boehme-Neßler und der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Kubicki. Der FDP-Politiker rekapituliert in seinem Beitrag, wie schwierig es für ihn war, während der Corona-Krise über den parlamentarischen Weg an Informationen zu gelangen. Betont wird dabei, dass gerade die vom «Lauterbach-Ministerium» gegebenen Antworten «mindestens irreführend» waren. Die RKI-Protokolle hätten da schon mehr Aussagekraft, so Kubicki:
«Differenzierte Zahlen lagen dem RKI spätestens seit dem Frühjahr 2022 vor, wurden aber nie der Öffentlichkeit präsentiert. Dem Datensatz vom 23. Februar des Jahres können wir eine Grafik entnehmen, aus der hervorgeht, dass der Anteil der Menschen, die zwar an COVID erkrankt waren, aber an einer anderen Ursache verstorben sind, zum Teil lange vor meinen Fragen bekannt war. So kann man aus dem Leak erkennen, dass der Anteil der offiziellen Corona-Toten, die lediglich positiv getestet wurden, im Einzelfall über 25 Prozent lag. Somit wurde die offizielle Zahl der Corona-Toten immer höher ausgewiesen, als es richtig gewesen wäre.»
Kubickis Text war vorher auf seiner Webseite veröffentlicht und wurde für die Anthologie leicht überarbeitet. Die anderen Beiträge erschienen in den meisten Fällen in der Berliner Zeitung und im Magazin Cicero. Jedem Text ist jeweils einer oder mehrere Vermerke aus den RKI-Protokollen vorangestellt, sodass sie quasi die Richtung vorgeben.
Allein diese Auswahl macht die Anthologie zu einem Buch, das in keiner Bibliothek fehlen darf. Die wenigen, aber aussagekräftigen Notizen verdeutlichen, wie stark das System der liberalen Demokratie während der Corona-Jahre verbogen wurde. Um es wieder geradezurücken, bedarf es eines gesteigerten Bewusstseins für die vielen Missstände in den jeweiligen Gesellschaftsbereichen – insbesondere in der Wissenschaft. Baruckers Buch leistet dazu einen großen Beitrag.
* «Halo» heißt auf Deutsch «Heiligenschein». Entsprechend wird der Halo-Effekt auch Heiligenschein-Effekt genannt und bezeichnet einen kognitiven Bias, bei dem eine einzelne, auffällige Eigenschaft einer Person oder eines Produkts den Gesamteindruck überproportional positiv oder negativ beeinflusst. Dadurch entsteht eine Verzerrung, bei der ein dominantes Merkmal den Blick auf andere, möglicherweise wichtige, Eigenschaften verdeckt.
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